CoViD19 - Kommunikation, Verlässlichkeit und Unwägbarkeiten
An Vorschlägen für CoViD19-Strategien mangelt es nicht. Wer meinen Blog auch schon im April gelesen hat, wird sich nicht wundern, dass ich für große Sympatien für den NoCovid-Vorschlag (Eine neue proaktive Zielsetzung für Deutschland zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 von Baumann et al.) habe.
Aber eine solche Strategie wird nicht funktionieren, ohne dass man sie tatsächlich verfolgt, und ohne, dass man die Bevölkerung einbindet.
Ohne Strategie sind wir gefangen
Welche Strategie hat die Politik? Weiß man es? Die Bundeskanzlerin macht mal diese, mal jene Andeutung, lässt es aber stehen, wenn der Gesundheitsminister am nächsten Tag das Gegenteil erklärt. 16 Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten geben auch - ja ein vielstimmiger Chor wäre schön - viele schräge Töne in dem, was für Ziele sie verfolgen. Von Landesministern und gar Vertretern kleiner Parteien ganz zu schweigen, die sich gebärden, als wäre es ein Schrillheitswettbewerb. Nicht zu vergessen, die Ethik-Berater, deren Beratungsgrundlage so abwegig ist, dass der Bayerische Rundfunk sie lieber nicht verbreitet.
Wir sehen, wie diejenigen Gruppen, die vom aktuellen Lockdown betroffen sind - Kultur, Familien, Dienstleister wie Friseure, Einzelhandel und Gastronomie - unter der Plan- und Perspektivlosigkeit leiden und langsam oder schnell verzweifeln.
Die Corona-Entwicklung ist voller Unwägbarkeiten und deshalb kann eine seriöse Politik auch kaum weit im Voraus kommunizieren in vier Wochen machen wir X, so gern wir das hätten.
Aber, auch in unsicheren Zeiten ist Verlässlichkeit und eine klare Kommunikation wichtig.
- Welche Ziele haben wir?
- Wie können wir sie erreichen?
- Wo stehen wir auf dem Weg dorthin?
Und hier schlägt die Politik fehl.
Wer Auto fährt, kann auch nicht sagen, um wieviel Uhr man bremst, das macht aber auch nichts. Gleichwohl mag man sich darauf verlassen dass, auch wer gern schnell ankommen mag, bremst, wenn es die Situation erfordert.
Wie könnte es besser sein?
Ich würde mir wünschen, dass die Politik klare Ziele setzt und kommuniziert. Diese müssen nicht unumstößlich sein - eine neue Virusvariante ändert die Erfordernisse - aber man sollte sei setzen, kommunizieren und auch Änderungen begründen.
Nun ist es leicht, im Abstrakten zu reden, machen wir es aber konkret:
Was wäre, wenn die Politik geplante Schwellen für öffnungen kommuniziert, z.B.Ich entscheide das nicht, es ist ein Beispiel, das vielleicht meiner Wahrnehmung des Risikos der verschiedenen Bereiche entspricht. Mir persönlich sind Schulen vielleicht wichtiger als Friseure, aber ich komme nicht umhin zu sehen, dass Schulen, bei aller Wichtigkeit, auch große Menschenversammlungen sind. Aber es mag auch klügere Menschen geben, die hier einen besseren Fahrplan ausdenken.
- Wir planen, den Einzelhandel mit den aktuellen Hygieneauflagen bei einer 7-Tages-Inzidenz von 50 wieder zu öffnen.
- Friseure und vergleichbare Dienstleistungen sind durch den engen Kontakt kritische, deshalb wollen wir diese bei 25 wieder öffnen.
- Mit Schulen sind wir vorsichtig und wir öffnen sie erst wieder bei 10.
- Für Gastronomie und kulturelle Veranstaltungen mit den aktuellen Hygienekonzepten sehen wir erst bei Inzidenz drei Wochen lang unter 10 Spielraum.
Das ist weniger schön, aber viel seriöser als ein Datum auf die Frage "wann sind wir endlich da". Aber, wenn meine Kinder das fragen, sagen wir auch immer etwas wie "wir haben jetzt die Hälfte geschafft, wenn es keinen Stau gibt, kommen wir in etwas ... an".
Das brauchen wir auch, und das könnten wir auch für Corona leicht haben, denn inzwischen hantieren wir spielerisch mit 7-Tage-R und Inzidenzzahlen, so dass Prognosen möglich sind.
Eine mögliche Kommunikation wäre dann:Und ich glaube, dass so ein Diagramm nicht nur zumutbar ist, sondern auch eine Hilfe dabei, die aktuelle Situation, die aktuelle Entwicklung und das Ziel in eine Gesamtschau zu bringen.
- Aktuell ist die Inzidenz im Landkreis München 90 und wir schätzen R auf 0.79.
- Wir gehen davon aus, dass wir durch Ladenöffnungen bei Inzidenz 50 und die Öffnung von Dienstleistungsbetrieben bei Inzidenz 25 durch die dann verbesserte Kontaktverfolgung den R-Wert halten können und damit die die Inzidenz weiter sinkt.
- Wenn wir dieses R halten, z.B. indem wir die Maßnahmen unverändert fortführen, sind wir am 3. März bei einer Inzidenz von 10.
- Wenn wir wir Übertragung um weitere 10% reduzieren, z.B. durch stärkere Maßnahmen, Schnelltests o.ä., sind wir am 19. Februar bei einer Inzidenz von 10.
- Wenn wir aktuell schätzen, dass 10% der Fälle B117-Mutanten sind und diese 35% ansteckender (gemessen in R) sind, haben wir mit den aktuellen Maßnahmen im März ein großes Problem, weil die Inzidenz wieder steigt statt fällt.
Aus meiner Sicht wäre eine solche Kommunikation viel sinnvoller. Die Unsicherheit geht nicht weg, aber wir können uns anhand der Szenarien darauf einstellen und wir wissen, was vor uns liegt. Sie schafft einen Bezug von den Entwicklungen, die wir nicht völlig unter Kontrolle haben, zu den Zielen und den dafür ergriffenen Maßnahmen. Wir können auch beurteilen, ob wir nun Fortschritte oder Rückschritte machen.
Es würde auch den temporären Charakter der Enschränkungen - die ja auch Lockdown-Befürworter für ein Übel, wenn auch ein notwendiges, halten - betonen.
Fazit
Wir haben eine mögliche Kommunikationsstrategie gesehen. Ich glaube, sie würde es den Menschen - insbesondere auch denen, die vom Lockdown betroffen sind und mit ihm hadern - leichter machen, zu verstehen, was los ist und wie wir es los werden. Die Nichtkommunikation empfinde ich als belastend und während ich nicht weiß, ob es allen so geht, ist es in meinem persönlichen Umfeld ähnlich.
Wir brauchen einen Ausweg. Aus CoViD19. Aus den Lockdowns. Und aus der Perspektivlosigkeit die den Lockdowns anhaftet. Wir werden es nur lösen können, indem wir alle drei angehen.
Und es ist ja Wahljahr. Bei CoViD19 wird deutlich, wer in der Politik hofft, Probleme würden von allein weggehen und wer etwas angeht. Danach werde ich wählen, glücklicherweise gibt es da in meinem Wahlkreis einen geeigneten Kandidaten.
Anhang für die Matheprotzer
Wie das RKI nehme ich ein Serielles Intervall von 4 Tagen an. Die 7-Tage-Inzidenz wird aus den RKI_COVID-Daten der letzten 7 Tage übernommen. Das ist nur so mittelgut, da da Einträge zum Ende dünner werden, vermutlich wäre es besser, wenn man den letzten Tag wegließe.
Die Reproduktionszahl schätze ich aus dem Quotienten der letzten 7-Tage-Inzidenz und jener sieben Tage zuvor als $R \approx (I_{t} / I_{t-7d})^{4/7}$. Die Fortschreibung erfolgt über eine tägliche Anpassung der Inzidenz um $R^{1/4}$, das ist auch eher grob. Die 7-Tage-Inzidenz von 10 wird dann erreicht nach $\frac{\log 10 - log I_t}{1/4 log R}$ Tagen.
Für das Szenario der 10% stärkere Reduktion nehme ich $R_{10\%} = 0.9 R$. Für das B 1.1.7-Szenario nehme ich an, dass es eine Reproduktionszahl $R_{alt}$ für das "alte" Coronavirus gibt und für das neue $R_{B117} = 1.35 R_{alt}$ gilt. Wenn der Anteil B 1.1.7 aktuell $\alpha$ ist, dann ist das aktuelle $$R = \alpha R_{B117} + (1-\alpha) R_{alt} = (1+ \alpha * 0.35) R_{alt}$$ und die Fortschreibung erfolgt mit $$I_{T} \approx I_{t} \times (\alpha R_{B117}^{(T-t)/4d} + (1-\alpha) R_{alt}^{(T-t)/4d}). $$
Anhang für Programmierprotzer
Wenn es jemand selbst programmieren möchte: Schöner geht es bestimmt, aber hier ist mein Code basierend auf RKI_COVID19.csv
und Bevölkerungszahlen:
lk = 'LK München' ser_ni = df[df['AnzahlFall']>0].groupby(['Landkreis', 'Meldedatum'])['AnzahlFall'].sum()[lk] last_date = ser_ni.index.max() ser_ni = ser_ni.reindex(pandas.date_range('2020-03-01', last_date), fill_value=0) ser_7ti = ser_ni.rolling(7).sum()[6:]/lk_pop[lk]*100_000 N_past = 200 fig = pyplot.figure(figsize=(10,5)) ax = pyplot.gca() last_7ti = ser_7ti[-1] pyplot.plot(ser_7ti[-N_past:]) daily_change = (ser_7ti[-1]/ser_7ti[-8])**(1/7.0) daily_change_b117 = 1.35**(1/4)*daily_change current_b117 = 0.1 daily_change_without_b117 = ((1/(1+0.35*current_b117))**(1/4))*daily_change daily_change_10pct = 0.9**(1/4)*daily_change r_estimate = daily_change**4 pyplot.yscale('log') #ax.yaxis.set_major_formatter(pyplot.ScalarFormatter()) pyplot.minorticks_off() pyplot.yticks([10, 25, 50, 100, 200], ['10 - Schulen öffnen', '25 - Friseure öffnen', '50 - Handel öffnen', 100, 200]) if daily_change < 1: reach50 = (math.log(50)-math.log(ser_7ti[-1]))/math.log(daily_change) reach25 = (math.log(25)-math.log(ser_7ti[-1]))/math.log(daily_change) reach10 = (math.log(10)-math.log(ser_7ti[-1]))/math.log(daily_change) reach10_10pct = (math.log(10)-math.log(ser_7ti[-1]))/math.log(daily_change_10pct) proj_dates = pandas.date_range(last_date, periods=int(reach10+2), freq='D') proj_dates2 = pandas.date_range(last_date, periods=int(reach10+2+50), freq='D') else: proj_dates = pandas.date_range(last_date, periods=50, freq='D') proj_dates2 = pandas.date_range(last_date, periods=50, freq='D') projection_10pct = ser_7ti[-1]*(daily_change_10pct**numpy.arange(len(proj_dates))) projection = ser_7ti[-1]*(daily_change**numpy.arange(len(proj_dates))) projection_b117 = ser_7ti[-1]*(current_b117* (daily_change_b117**numpy.arange(len(proj_dates2))) + (1-current_b117)*(daily_change_without_b117**numpy.arange(len(proj_dates2)))) with pyplot.xkcd(): pyplot.plot(proj_dates, projection, '--', color='orange') pyplot.plot(proj_dates, projection_10pct, '--', color='g') pyplot.plot(proj_dates2, projection_b117, '--', color='red') if daily_change < 1: reach10_date = (last_date+pandas.to_timedelta(reach10, unit='D')).date().isoformat() reach10_date_10pct = (last_date+pandas.to_timedelta(reach10_10pct, unit='D')).date().isoformat() else: reach10_data = '... äh, nicht' pyplot.plot([ser_7ti.index[-N_past], proj_dates2[-1]], [10, 10], '--', color='black', alpha=0.5) pyplot.plot([ser_7ti.index[-N_past], proj_dates2[-1]], [25, 25], '--', color='black', alpha=0.5) pyplot.plot([ser_7ti.index[-N_past], proj_dates2[-1]], [50, 50], '--', color='black', alpha=0.5) pyplot.xticks(rotation=90) pyplot.ylim(bottom=9) pyplot.title(f"{lk} - geschätztes R={r_estimate:.02}-\n bei weiter wie jetzt Inzidenz 10 am {reach10_date}"); ax.xaxis.set_major_locator(matplotlib.dates.MonthLocator()) ax.xaxis.set_major_formatter(matplotlib.dates.DateFormatter('%Y-%m-%d')) pyplot.text(proj_dates[9], projection_10pct[15] , '10% stärkere Reduktion', ha='right', color='g') pyplot.text(proj_dates[-5], projection[-5] , 'weiter wie jetzt', ha='left', color='orange') pyplot.text(proj_dates[-5], projection_b117[len(proj_dates)-5]+10 , 'weiter wie jetzt mit B117', ha='left', color='r') lk_lower = lk.lower().replace(' ', '_') fig.savefig(f"projektion_{lk_lower}.svg", bbox_inches='tight')
Ich würde mich freuen, wenn es jemandem hilft, eine Projektion zu bauen.